Veranstaltungsreihe "Begegnungsjahr Obere Mühle Villmergen"

Referat: "Fastenzeit als Einspruch und Anspruch - ganz persönlich"

Einführung:
Je stärker unsere Wohlstandsgesellschaft sich über materiellen Besitz definiert, desto mehr rückt auch das freiwillige Verzichten wieder in den Vordergrund. Fasten liegt wieder im Trend. Allerdings wird das Fasten kaum als umfassendes Speisefasten praktiziert, diese geistig-seelische und körperliche Extremerfahrung war auch früher nie ein Breitenphänomen. Es geht heute vielmehr um ein partielles Fasten, um einen bewussten Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel oder Konsumgüter. Zur neuen Popularität des Fastens trägt bei, dass Fasten auf einen fest abgesteckten zeitlichen Rahmen beschränkt ist, dass gesundheitliche und ästhetische Motive heute wieder im Vordergrund stehen und dass das Moment der Selbstbeherrschung, der Selbstdisziplin in unserer Leistungsgesellschaft einen hohen Stellenwert hat und man durch Fasten so sozial auch Anerkennung erhält. Daraus folgt aber, dass die Osterfrömmigkeit als Motivation für das Fasten bei den meisten Leuten keine oder nur eine sehr geringe Rolle spielt.
Daher finde ich es wichtig, zuerst einmal zurück zu den biblischen Grundlagen zu gehen. Essen, vor allem das gemeinsame Essen, spielte schon seit jeher in allen Kulturen eine grosse Rolle. Durch ein kollektives Mahl wird definiert und bestätigt, wer dazugehört, die Gleichheit aller Teilnehmer war dabei Voraussetzung. Im religiösen Zusammenhang bildete sich dann auch eine ritualisierte Form, das kultische Mahl, wie wir es im Christentum als Eucharistiefeier kennen, in Gedenken an das letzte Abendmahl von Jesus mit seinen Jüngern, aber auch an die Feier der Gemeinschaft, die Jesus in vielen Mahlzeiten gestiftet hat. So wurde ihm von seinen Gegnern vorgeworfen, er sei ein „Fresser und Weinsäufer“ (vgl. Mt 11,19).
So wird auch der Verzicht auf Speise und Trank religiös motiviert. Der ursprüngliche Gedanke dabei war die Abwehr dämonischer Kräfte, die über das Essen in den Menschen hineingelangen und von ihm Besitz ergreifen könnten. Im AT ist Fasten ein Ausdruck der Trauer, der Busse und dient zur Vorbereitung auf besondere religiöse Ereignisse, wie z. B. des Versöhnungstages (vgl. Num 29,7), nach der Heimsuchung des Babylonischen Exils rückte das Fasten für Israel stärker in den Vordergrund und es kamen vier weitere Fastentage hinzu. Im Laufe der Zeit wurde das Fasten aber immer stärker Ausdruck einer oberflächlichen Frömmigkeit, ohne die nötige innere Einkehr. Dies haben die Propheten immer wieder kritisiert, z. B. Jes 58,3-8: „Warum fasten wir und du siehst es nicht? Warum tun wir Busse und du merkst es nicht? Seht, an euren Fasttagen macht ihr Geschäfte und treibt alle eure Arbeiter zur Arbeit an. Obwohl ihr fastet, gibt es Streit und Zank und ihr schlagt zu mit roher Gewalt. So wie ihr jetzt fastet, verschafft ihr eurer Stimme droben kein Gehör. Ist das ein Fasten, wie ich es liebe, ein Tag, an dem man sich der Busse unterzieht? Wenn man den Kopf hängen lässt, so wie eine Binse sich neigt, wenn man sich mit Sack und Asche bedeckt? Nennst du das ein Fasten und einen Tag, der dem Herrn gefällt? Nein, das ist ein Fasten, wie ich es liebe: die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen, an die Hungrigen Brot auszuteilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden und dich deinen Verwandten nicht zu entziehen. Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte und deine Wunden werden schnell vernarben. Deine Gerechtigkeit geht dir voran, die Herrlichkeit des Herrn folgt dir nach.“
Es geht also schon im AT nicht in erster Linie um den Nahrungsverzicht, um den leeren Magen, sondern um eine Nüchternheit im weitesten Sinn, um einen nüchternen Blick auf die eigene Lebenssituation und auf sein Umfeld, um die innere Umkehr, um Busse. Und es geht um tätigen Einsatz für eine gerechtere Gesellschaft, um Beziehung. Damit sind eigentlich die Grundzüge und die Grundintention des Fastens universal gültig ausgedrückt.
Diese Auffassung von Fasten wird auch im Neuen Testament weitergeführt, sie entspricht ganz und gar der Aufforderung Jesu zu einem gottgefälligen Handeln in Liebe. Er hat aber auch – weil es offenbar nötig war! - eine Fastenpraxis nur um der scheinheiligen Erfüllung des Fastengebots willen stark kritisiert, so in Mt 6,16-18. Fasten darf also nicht zur Selbstgerechtigkeit verführen, sondern soll im Dienste des Reiches Gottes stehen, Augen und Herz für den Mitmenschen öffnen, vor Masslosigkeit und willenloser Abhängigkeit schützen. Dabei ist aber immer auch die spirituelle Dimension, das Hören auf den Geist Gottes, mitgemeint, aber es geht nicht um eine Selbstoptimierung oder gar um Selbsterlösung: Beim Fasten geht es immer um Beziehung, zu Gott, zu den Mitmenschen und zu allem Lebendigen.


1. Von der Politik zur Theologie
Dieser Beziehungsaspekt schlägt nun den Bogen zu einem Bereich, in dem aktuell auch etwas mehr Nüchternheit gefragt wäre, nämlich der Politik. Als ich 2014 bekannt gegeben habe, dass ich von meinem Grossratsmandat zurücktrete und ein Theologiestudium beginne, waren die Reaktionen sehr unterschiedlich, aber im Grossen und Ganzen doch von einem gewissen Erstaunen geprägt. Wie kann man eine doch einigermassen vielversprechende Karriere in der Politik aufgeben zu Gunsten eines sehr langen, sehr anstrengenden und bezüglich der Berufsaussichten sehr unbestimmten Studiums? Wäre es nicht viel Sinnvoller, die ‚christlichen Werte‘ in der Politik zu verwirklichen, wo die Reichweite und die Wirkung einiges grösser wäre?
Mein Entscheid, den ich bis jetzt noch nie auch nur eine Sekunde bereut habe, hat zwei Seiten: einerseits eine innere Berufung, ein sicheres Gefühl, dass dies mein Weg sei. Ich habe ja bereits nach der Matura mit dem Gedanken gespielt, Theologie zu studieren, aber als junge, katholische Frau im Bistum Chur sah ich überhaupt keine Perspektiven. Ausserdem war ich nach langer Schulzeit begierig nach dem ‚richtigen‘ Leben. Deshalb habe ich eine Buchhändlerlehre gemacht und dann auch bis zur Geburt unserer ersten Tochter in diesem sehr bereichernden Beruf gearbeitet. Nun, ein Vierteljahrhundert später, schien mir die richtige Zeit dafür gekommen.
Die zweite Seite war aber genauso entscheidend: ich habe nämlich in der Politik eine gewisse Sinnkrise erlebt. Inwieweit kann die Politik überhaupt Entwicklungen in der Gesellschaft steuern? In einem Umfeld globalisierter Wirtschaft und noch nie dagewesener Individualisierung und Pluralisierung können politisch vielleicht noch gewisse Rahmenbedingungen und kurzfristige Beschränkungen definiert werden, aber mehr auch nicht mehr. Zudem hat die Politik nicht den Einzelnen im Blick, das kann sie gar nicht. Aber genau dem einzelnen Menschen und seiner Situation gilt mein hauptsächliches Interesse. Auch hier ist für mich die Beziehungskomponente vorrangig.
Somit ging es damals für mich und geht es auch heute noch um die Frage der christlichen Werte, die der CVP-Parteipräsident Gerhard Pfister aktuell lanciert hat. Was macht das ‚C‘ in der Politik? Gerhard Pfister spricht von „christlich-abendländischen Werten“ die es zu verteidigen gilt und meint damit implizit eine Abgrenzung von der ‚orientalisch-muslimischen‘ Kultur. Die Diskussion darüber, was unsere Gesellschaft ausmacht und welche gemeinsame Wertbasis ihr zugrunde liegt und nicht aufgegeben werden darf, ist notwendig. Und doch muss ich hier einen gewissen Einspruch geltend machen. Abgesehen davon, dass auch das Christentum aus dem Orient kommt, ist das Evangelium nicht einfach ein Handlungsleitfaden für die Politik, bzw. darf man nicht erwarten, dass sich auch eine ‚christliche‘ Politik eins zu eins am Evangelium messen lassen kann.
Die Werte, die in der Diskussion angesprochen sind, beruhen auf den Menschenrechten, aus denen sich dann der Würdebegriff, die Gleichheit, die Gewissensfreiheit und die weiteren verfassungsmässig garantierten Individualrechte ableiten lassen. Die Menschenrechte wiederum werden gerne als Produkt der Aufklärung gesehen, sie basieren aber auf der biblischen Aussage der Gottesebenbildlichkeit jedes Menschen und der Lehre Jesu von Nazareth. Daraus entwickelten spanische Theologen im 16. Jahrhundert die ersten Grundzüge des Völkerrechts und eines allgemeinen Menschenrechts, denn sie machten sich Gedanken darüber, wie mit den Bewohnern des neu entdeckten Amerikas zu verfahren sei und ob eine Besetzung derer Länder legitim sei.
Es sind also die Grundzüge des modernen liberalen und säkularen Staates, denn die Religionsfreiheit ist ein entscheidendes Mittel, die Freiheit des Einzelnen von obrigkeitlicher Willkür und Fremdbestimmung zu schützen. Wenn in der Politik nun aber von ‚christlichen Werten‘ die Rede ist, dann soll damit gemeint sein, dass der Staat gewisse soziale Aufgaben wahrnehmen muss, so dass jeder und jede ein selbstbestimmtes Leben in Würde führen kann. Nichtsdestotrotz gehen damit auch Pflichten einher. Und der Staat als Gemeinwesen kommt nicht umhin, gewisse Sachlagen zu verallgemeinern, er kann nicht auf jeden Einzelfall Rücksicht nehmen. Kernaufgabe des Staates ist es, das Zusammenleben zu organisieren und die innere und äussere Sicherheit zu garantieren, so dass sich das Individuum möglichst frei entfalten und seine Existenz bestreiten kann.
Schon in meiner aktiven Zeit als CVP-Grossrätin habe ich mich immer dagegen gewehrt, dass ‚christliche Politik‘ einfach ‚Geld umverteilen‘ heissen soll. Das sogenannte ‚Gemeinwohl‘ ist das Ziel, die Beachtung von ethischen Grundsätzen und nicht die Gleichschaltung aller Lebenssituationen, wie sie beispielsweise der Sozialismus angestrebt hat.
‚Christliche Werte‘ im Sinne des Evangeliums haben aber nur ganz am Rande mit der Politik zu tun, nämlich mit der Einstellung der einzelnen Akteure. Schon Jesus sagte ja laut dem Matthäus-Evangelium: „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört.“ (Mt 22,21). Dies meint vor allem, dass die Sphäre des Staates und die Sphäre des religiösen Handelns nicht deckungsgleich sind.
Wenn wir nun zurück zum biblischen Verständnis des Fastens gehen, dann wird dort deutlich, dass das eigene, individuelle Handeln und die eigene Beziehung zur Aussenwelt eine entscheidende Rolle spielen. Die Evangelien erzählen nichts darüber, dass Jesus eine bestimmte Staatsform ausgerufen hätte. Es ging ihm immer um den einzelnen Menschen, um das Handeln des Einzelnen, aber auch um seine Zuwendung zum einzelnen Menschen in Not. Natürlich kann seine Kritik an den Tempeldienern und an den Schriftgelehrten so verstanden werden, dass niemand aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen werden darf und dass jeder Mensch, und sei er auch sündig, vor Gott dieselbe Barmherzigkeit findet. Dies ist eine Richtschnur für politisches Handeln, wie es ja in den Menschenrechten definiert ist. Aber, und das war mir schon immer ganz wichtig:
Christliches Handeln kann nicht an die Politik delegiert werden. Es ist jeder und jede aufgefordert, zu anderen Menschen in eine heilsame Beziehung zu treten, dem Anderen in seiner Not beizustehen, soweit uns das möglich ist und unabhängig davon, ob diese Not bereits staatlich gelindert wird oder nicht. Es geht um die persönliche Zuwendung.
Wenn wir dies ganz aktuell auf die Herausforderungen in der Flüchtlingspolitik anwenden, dann heisst das: auch ein Staat, der auf christlichen Werten beruht, kann nicht einfach seine Grenzen öffnen und alle aufnehmen, die zu uns kommen. Denn wie erwähnt muss der Staat seine Einwohnerinnen und Einwohner schützen und die innere Sicherheit garantieren. Er muss sich fragen, was und wieviel er den Leuten zumuten kann, ohne dass die Lage eskaliert. Ist er dazu nicht mehr in der Lage, greift Selbstjustiz um sich und es herrscht Anarchie. Auch hat ein Staat in erster Linie die Interessen seiner eigenen Bürgerinnen und Bürger zu betrachten, selbstverständlich darf er aber auch den Blick für das Ganze nicht verlieren. Das würde aber bedeuten, globale Unheilsstrukturen, für die gerade wir in der westlichen Welt verantwortlich sind, aufzubrechen, so dass die weltweite Ungerechtigkeiten gemindert würden und so die Grundlage für Kriege und Migration mit der Zeit eliminiert werden könnte. Denn es sind unsere historischen und gegenwärtigen Sünden, die die aktuelle Situation herbeigeführt haben. Alles andere ist keine nachhaltige Lösung. Dafür braucht es aber auch in der Politik einen nüchternen Blick, der über die nächsten Wahlen und über Parteiprogramme weit hinausgeht und sich auch eine Gesellschaft vorstellen kann, die nicht allein auf Wirtschaftswachstum beruht. Und hier zeigt sich auch, dass das Handeln des einzelnen Staates sehr beschränkt ist. Die Schweiz muss sich aber im globalen Umfeld für die Minderung und Umkehrung der herrschenden strukturellen Ungerechtigkeit einsetzen, was aber nicht funktionieren wird, so lange man vom Primat der Wirtschaft und der unhinterfragten Wachstumsgläubigkeit ausgeht. Unser ganzes System scheint sich diesbezüglich verselbständigt zu haben. Umso mehr kommt es auf den Einzelnen und auf sein Verhalten an:
Für den einzelnen Staatsbürger und die einzelne Staatsbürgerin wiederum bedeutet Christsein, als Konsumentin und Konsument nachhaltig und bewusst zu handeln, in der Flüchtlingsfrage wiederum, die Menschen, die nun hier sind, willkommen zu heissen, sie zu unterstützen, ihnen den Start in einer fremden Kultur zu erleichtern und sie nicht pauschal als Bedrohung, sondern als Mitmenschen, als Individuen mit ihrer eigenen Lebensgeschichte, mit Hoffnungen und Ängsten zu sehen. Dabei spielt es keine Rolle, ob man politisch eher zu einer harten Linie neigt im Asylwesen oder nicht, denn – wie gesagt – wir sprechen hier von zwei verschiedenen Ebenen. Aber das Handeln des Einzelnen ist entscheidend.
Christliche Werte können also durchaus als Einspruch in der Politik gesehen werden, als Postulat für ein weitsichtiges staatliches Handeln, in ihrer konkreten Botschaft sind sie aber vor allem ein Anspruch an den einzelnen Christ und die einzelne Christin. Dieser Anspruch ist auch gemeint, wenn von ‚eigenverantwortlichem Handeln‘ gesprochen wird. Man ist für das eigene Leben und was man daraus macht, selbst verantwortlich und ebenso trägt man die Verantwortung für sein soziales Umfeld, für alles, was man beeinflussen kann und zu dem man eine Beziehung aufbauen kann.
Unsere Gesellschaft hat sich aber diesbezüglich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Vieles wurde an den Staat delegiert, der wiederum seine Bürgerinnen und Bürger gängelt und bevormundet. Wir zeichnen uns durch ein übersteigertes Sicherheitsdenken und eine Anspruchshaltung aus, die die politischen Akteure extrem herausfordert. Die Politik wiederum kann gesellschaftliche Entwicklungen weder bremsen noch abändern, sondern nur reagieren. Und genau hier setzte auch meine persönliche Sinnfrage ein. So vieles läuft aus meiner Sicht in eine falsche Richtung, was aber politisch nicht geändert werden kann, sondern nur wieder nach mehr Reglementierung ruft. Soll ich mich also weiterhin in einem Bereich engagieren, in dem ich zwischen gesellschaftlichen Ansprüchen, bürokratischen Reaktionen und Parteivorgaben aufgerieben werde? Oder ist jetzt die Zeit gekommen, meiner inneren Stimme nachzugehen und die Menschen auf einer anderen Ebene zu erreichen? Solche Entscheide sind nicht einfach, innere Einkehr und gründliches Hinterfragen der eigenen Lebenssituation wie es die Fastenzeit ermöglicht, können hier die nötige Distanz vom gewohnten Alltag und dessen nüchterne Betrachtung bieten. Aber eben, es geht nicht nur um die eigene Befriedigung, sondern um ein befriedigendes In-Beziehung-Treten mit den Mitmenschen und der Umwelt.


2. Was bedeutet Fastenzeit für mich?
Mein Entscheid, mit der Politik aufzuhören, ist nicht in der Fastenzeit gefallen. Es war ein längerer Prozess, in dem ich auch erst den Mut fassen musste, den Schritt in eine ganz neue Herausforderung zu wagen. Für mich ist das Fasten aber eine wichtige Gelegenheit, sich von vielen Zwängen in einem doch ziemlich fremdbestimmten Alltag frei zu machen. Natürlich kann man nicht einfach alle geschäftlichen oder sonst wie verpflichtenden Termine zwischen Aschermittwoch und Ostern absagen. Aber gerade im Verzicht auf gewisse Selbstverständlichkeiten bezüglich des Essens und Trinkens zeigt sich doch, wie abhängig wir uns von vielem, vor allem auch Materiellem, gemacht haben. Sie alle kennen ja Bemerkungen wie: „Am Morgen brauche ich erst meinen Kaffee, sonst kann ich gar nichts machen“ oder „ohne ein rechtes Stück Fleisch ist es für mich kein Essen“.
In der Fastenzeit kann man sich das Gegenteil beweisen und besondere Erfahrungen machen. Es beginnt damit, dass Fasten eben schwer fällt, es kostet Überwindung. Hält man aber durch, ist man stolz auf die eigene Selbstdisziplin und erfährt, wozu man fähig ist. Dies führt zu einem Freiheitsgefühl, man kann Zwänge unterbrechen und darum auch Handlungsroutinen verändern. Dies ist das entscheidende Moment, das auch zu nachhaltigen Wandlungen führen kann. Dies bringt mehr Lebensqualität, ein neues Bewusstsein und intensivere Erlebnisse. Die Erfahrung, dass Verzicht eine Bereicherung sein kann, kann uns auch offen machen für spirituelle Erfahrungen.
Für mich persönlich heisst fasten, auf Süssigkeiten zu verzichten. Ja, das fällt mir ziemlich schwer... Wir essen ohnehin nicht viel Fleisch, während der Fastenzeit versuche ich, ganz darauf zu verzichten. Ernährung und damit verbunden die Produktion von Nahrungsmitteln hat bei mir einen hohen Stellenwert. Die Sensibilität dafür habe ich vor allem durch die Imkerei bekommen. Die Beschäftigung mit den Bienen hat meinen Blick für die Zusammenhänge in der Natur und damit unweigerlich in der Landwirtschaft geschärft. Auch hier spielt die Beziehung eine Rolle, die Beziehung zwischen Bienen, blühenden Pflanzen, intensiver Landwirtschaft und Pestiziden zum Beispiel. Dazu gehe ich nachher noch näher ein.
Fasten bedeutet für mich aber auch, auf materiellen Konsum zu verzichten, die ganze Lebensweise zu hinterfragen. Der bewusste Verzicht ist ja immer auch ein Innehalten, ein Zuhören auf das eigene Innere, aber auch auf andere. Die Theologin Dorothee Sölle definiert das Fasten als „Selbstunterbrechung“, denn „die Fixierung auf unendliche Habensbedürfnisse halten Menschen vom Menschsein ab. In der Enthaltsamkeit geht es darum, ein sinnlich-intensives Verhältnis zu den Dingen wieder zu gewinnen.“ Das „Verhältnis zu den Dingen“ – hier haben wir wieder einen Hinweis auf die Beziehung! Leider ist Beziehungslosigkeit ein Phänomen unserer westlichen Konsumgesellschaft und Ursache vieler Missstände. Materielle Besitztümer haben zwar einen hohen Stellenwert, werden aber durch industrialisierte Massenproduktion und Ausbeutung der Menschen in Drittweltländern immer billiger, haben daher für uns keine Wert mehr und sind ersetzbare Wegwerfware. Selten haben wir noch eine besondere Beziehung und Wertschätzung z.B. für ein besonderes Kleidungsstück. Nun ist es grundsätzlich nicht schlimm, wenn man materielle Dinge nicht überbewertet, aber das Übel daran ist, dass wir trotzdem immer mehr haben wollen. Wenn es dann kaputt, nicht mehr in Mode oder langweilig wird, dann wirft man es weg.
Diese Wegwerfmentalität betrifft aber nicht nur leblose Dinge, sondern ist auch gegenüber Tieren, den natürlichen Ressourcen, Lebensmitteln und sogar Menschen zu beobachten. Beziehungen werden aufgekündigt, weil ‚es für mich nicht mehr stimmt‘, weil etwas Besseres gekommen ist oder weil wir im Moment einfach keine Zeit haben.
Das Menschsein ist aber durch Beziehungen geprägt, ohne Beziehung zu anderen Menschen und zur Umwelt an sich verliert der Mensch auch den Bezug zu sich selbst. Wir bemerken nicht einmal mehr, was uns eigentlich fehlt:  Wenn Menschen bei der Fahrt im Zug oder gar beim Joggen ihre Kopfhörerstöpsel im Ohr haben, ist das ein ziemlich deutliches Zeichen, dass sie überhaupt keine Beziehung zur Aussenwelt aufnehmen wollen. Ein bewusster Verzicht wie in der Fastenzeit kann dabei helfen, sich dessen bewusst zu werden und den Blick wieder auf das Wesentliche, auf die Welt um uns herum, zu richten. Damit einher geht der Vorsatz, es in Zukunft besser zu machen. Biblisch gesprochen zeigt sich hier der Umkehr- und Bussaspekt, der ja in der Fastenzeit vorrangig ist.


3. Fasten als bewusste Ernährung
Was unserer Gesellschaft abhandengekommen ist, sich aber langsam wieder mehr ist Bewusstsein rückt, ist die Wertschätzung unserer Lebensmittel und der natürlichen Ressourcen, aus denen sie gewonnen wurden. Schon Fasten im biblischen Sinn hatte nie mit der Verachtung von Speisen und Getränken zu tun, diese wurden immer als Gottesgaben angesehen! Fasten sollte vielmehr ein Ausdruck der Demut sein und eine Übung zur Freiheit von materiellen Bedürfnissen, die offen macht für das „Heilige“. Die heutige Produktion von Nahrungsmittel – die Bezeichnung ‚Lebensmittel‘ kann kaum mehr auf den Industrie-Ausstoss angewendet werden – ist ein Massengeschäft. Dabei werden nur die Kosten-Nutzen-Rechnung, aber kaum das Wohlbefinden von Mensch und Tier und die Nachhaltigkeit des Ressourcenverbrauchs mit einbezogen. Die Konsumenten wollen billige Nahrungsmittel und verschliessen die Augen vor dem millionenfachen Leid, das dadurch heute und für die kommenden Generationen verursacht wird. Wir leben und wir essen auf Kosten der Menschen im Süden, der Tiere und der Umwelt. In diesem Sinn ist Fasten auch der Einspruch zu unserem Umgang mit der Schöpfung.
Ganz offenbar wird die Fehlentwicklung am Beispiel unserer Honigbienen. Auch wenn das Bienensterben verschiedene Ursachen hat, so ist es heute unbestritten, dass die industrielle Landwirtschaft und vor allem die Agrochemie einen grossen Anteil daran tragen. Durch Pestizide werden die Bienen zwar nicht unmittelbar getötet, aber geschwächt. Was bisher kaum untersucht wurde, ist die Wechselwirkung unterschiedlichster Pflanzenschutzmittel auf die Bienenvitalität. Durch die Schwächung ihrer Abwehr, die durch die Varroamilbe ohnehin schon tief ist, wird die Biene anfälliger für Krankheiten und für Wetterkapriolen. Durch Monokulturen, durch gedüngte und häufig gemähte Wiesen und durch immer dichtere Besiedlung fehlen den Bienen die Vielfalt von Pollen und Nektar für ihre Nahrung.
Es ist aber deutlich festzuhalten: nur weil die Biene ein so genanntes Nutztier ist, beschäftigt sich die Politik überhaupt mit diesem Thema. Währenddessen sterben fast unbemerkt und leise unzählige Insektenarten und Schmetterlinge langsam aus. Weil sie wirtschaftlich nicht relevant sind, stören sich nur ein paar wenige Naturenthusiasten daran. Aber auch das ist die Folge der intensiven Bewirtschaftung, der Vernichtung von Lebensräumen, den Rückständen von Plastik und Medikamenten in den Gewässern.
Ganz schlimm ist die Situation in den riesigen Mastbetrieben im Ausland, in der Tausende von Tieren als Fleischlieferanten dahin vegetieren, ohne jemals frische Luft geatmet oder Gras unter den Füssen gespürt zu haben. Die Abwässer dieser Tierfabriken verseuchen das Grundwasser, die Gase zerstören unsere Atmosphäre, aber Hauptsache, der westliche Mensch erhält jeden Tag sein billiges Fleisch.
Dazu landen Tonnen von Lebensmittel im Abfall, weil man zu viel eingekauft hat, weil man nun keine Lust mehr darauf hat, weil das Gemüse eine angefaulte Stelle hat. Man kann ja billig wieder etwas anderes kaufen. Brot vom Vortag gilt als ungeniessbar und wird weggeworfen.
Um die Nachfrage nach Eiern und Poulet zu befriedigen, schiessen Hühnerställe wie Pilze aus dem Boden. Bei den Legehennen sind die kaum geschlüpften männlichen Küken Ausschuss und werden geschreddert. Die weiblichen Küken werden zu hunderten oder gar tausenden ohne Mütter aufgezogen. Wer einmal selber erlebt hat, wie eine Glucke ihre Kinder betreut und auf ihr Hühnerleben vorbereitet, findet das nur noch unerträglich.
Wieso muss dies sein? Weil alle immer alles wollen, und das auch noch günstig. Weil die Ökonomie immer Vorrang hat, weil uns alles nichts mehr wert ist. Es ist dringend, dass wir unsere Augen öffnen und erkennen, wie sich die Schöpfung, die uns zur treuen Verwaltung und zu unserer Freude geschenkt worden ist, verändert und wie sie verarmt. Wenn eine bestimmte Pflanze ausstirbt und damit auch das Insekt, das von ihr gelebt hat, dann merken wir das vielleicht gar nicht. Aber es ist wieder ein Mosaiksteinchen, das fehlt und das gesamte Bild weniger bunt werden lässt.
Und können wir es verantworten, uns vom Leid anderer Lebewesen zu ernähren? Färbt das nicht schlussendlich auch auf uns ab? Jedes Tier ist leidens- und es ist beziehungsfähig. Nehmen wir wieder Beziehung zur Schöpfung, die unsere Lebensgrundlage ist, auf und machen wir uns den Wert unserer Lebensmittel wieder bewusst, so dass sie uns etwas wert sind und auch ein wertvolles Dasein führen dürfen. Der Verzicht auf Nahrungsmittel, die früher nur zu ganz speziellen Feiertagen oder nur zu einer bestimmten Saison genossen wurden und für uns heute ganz alltäglich sind, kann den Blick dafür frei machen.

 

4. Fastenzeit als Hinführung zu Ostern
Wie wir bereits aus dem alttestamentlichen Jesaja-Text erfahren haben, ging es beim Fasten immer auch um einen Ausgleich von Ungerechtigkeit, um ein Geben an die Bedürftigen. Diese Tradition hat sich auch bei uns Katholiken im Fastenopfer bewahrt. Was wir durch unser Fasten einsparen, soll denen zugutekommen, denen es viel schlechter geht als uns. Das sogenannte „Hungertuch“, das alljährlich bis Ostern in den Kirchen hängt, ist ebenfalls ein Hinweis auf die Ungerechtigkeiten der Welt und unsere Verbundenheit mit den Bedürftigen. Früher hat „Fastenopfer“ vor allem einzelne Projekte unterstützt, in den letzten Jahren macht es aber immer stärker auf globale Unheilsstrukturen und deren Zusammenhang mit unsere Konsumverhalten deutlich. So ist auch die diesjährige Ausgabe des „Fastenopfer“-Magazin lesens- und bedenkenswert. Fasten soll uns unseren Anteil an struktureller Sünde vor Augen führen und damit zur Busse und zu einem neuen Verhalten anregen.
Fasten als Umkehr und als neuer Umgang zur Bewahrung der Schöpfung führt hin zur spirituellen Komponente des Fastens; Nahrungsverzicht öffnet den Geist für Einspruch und Anspruch der Botschaft und Lebenspraxis Jesu. Ein zweitägiges Buss- und Trauerfasten wurde bereits in der Alten Kirche praktiziert, als Vorbereitungszeit für Taufbewerber, an der die ganze Gemeinde solidarisch teilnahm. In der Alten Kirche fanden Taufen immer nur in der Osternacht statt. Bereits das Konzil von Nizäa 325 n. Chr. sprach von einer „Quadragesima“, gemeint ist eine vierzigtägige Buss- und Fastenzeit vor Ostern. Die Zahl 40 wurde von den Kirchenvätern dreifach begründet: mit den 40 Jahren, die die Wüstenwanderung des Volkes Israel ins Gelobte Land dauerte, mit den 40 Tagen, die Mose auf dem Berg Sinai verbrachte und vor allem mit dem 40-tägigen Fasten Jesu in der Wüste. Hier wird die spirituelle Komponente überaus deutlich, denn der Wüstenaufenthalt bildete den Auftakt des öffentlichen Auftretens Jesu von Nazareths.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Fastenzeit in ihrer Konstitution „Sacrosanctum Concilium“ für die Moderne definiert: SC 109/ 110. Allerdings spielt heute das Fasten als Teil der Osterfrömmigkeit keine grosse Rolle mehr. Ich halte es aber für wichtig, das Fasten in diesen Kontext einzubetten. Was feiern wir denn an Ostern? Die Auferweckung des Gekreuzigten, d.h. den Sieg des Lebens über die Macht des Todes. Dass Jesus auferstanden ist, ist nach dem Apostel Paulus für alle Menschen Grund zur Hoffnung ihres eigenen Weiterlebens in unmittelbarer Gottesgegenwart, vgl. 1 Kor 15. Die Auferweckung Jesu Christi ist die Vorwegnahme des Heilshandeln Gottes an allen Menschen. Würde das Leben mit der irdischen Existenz enden, wäre es dann nicht gleichgültig, was wir getan haben und wie wir uns verhalten haben? Die Verkündigung Jesu zielte aber immer auf das Ende, auf die Vollendung hin. Gericht und Gerechtigkeit und damit verbunden der Aufruf zur Umkehr und zur Nachfolge sind ein wichtiger Bestandteil seiner Lehre. Der Bezug zur Taufe ist auch von daher wichtig, da wir nach Paulus in der Taufe „mit Christus sterben und mit Christus auferstehen“. Die Fastenzeit ist daher die Vorbereitung auf dieses neue Leben. Unter diesem Gesichtspunkt richtet das Evangelium Jesu Christi seinen Einspruch an die Unheilsstrukturen der Welt, für die wir alle mitverantwortlich sind. Und es erhebt seinen Anspruch an uns alle, als Gemeinschaft, aber auch an jeden Einzelnen, die eigene Lebenssituation nüchtern zu überdenken und unser Leben am Massstab der Predigten und der Lebenspraxis von Jesus von Nazareth auszurichten. Es geht darum, dem grossen Geschenk der Liebe Gottes und der Verheissung auf Erlösung und ewigem Leben, wie sie das Osterereignis vorwegnimmt, gerecht zu werden. Sünde und Umkehr haben immer einen Bezug zur Gemeinschaft. Sünde beschädigt Beziehungen, im engen Umfeld, aber letztendlich auch in den grossen Dimensionen, denn sündiges Verhalten pflanzt sich fort, festigt sich, wird zur Normalität und daher nicht mehr hinterfragt. Die Verhältnisse sind dann einfach so wie sie sind, und man zweifelt, wenn schon, an Gott: Weshalb hat er keine gerechte Welt erschaffen? Dabei ist alles durch das Handeln von Menschen verursacht.
Deshalb führt auch die Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit, der Wille zur Umkehr zu einer neuen Qualität von Beziehung: zur Schöpfung, zu allen Lebewesen, zu einer neuen Wertschätzung von natürlichen Ressourcen. Vor allem aber geht es um eine neue Beziehung zu den Mitmenschen und letztlich zu Gott. Glaube ist nichts anderes als Beziehungsgeschehen. Der Theologe und Arzt Albert Schweitzer hat diesen Anspruch, den das Evangelium an uns stellt, in seinem grossen Werk „Kultur und Ethik“ auf einen prägnanten Nenner gebracht: „
Ehrfurcht vor dem Leben: ...gegen sich selbst wahrhaftig zu sein und allem Leben [...] miterlebende und helfende Teilnahme entgegenzubringen.“ Dies soll uns die vorösterliche Busszeit vor Augen führen und uns mit der Osterfreude zu einem neuen Lebensgefühl, zu neuer Sinnhaftigkeit, zu einer neuen Wahrnehmung der Wirklichkeit verhelfen. Schliessen möchte ich dieses Referat daher mit dem Aufruf des Apostels Paulus in 1 Kor 15,34: „Werdet nüchtern, wie es sich gehört, und sündigt nicht!

Alexandra Abbt, 2017

Literaturverzeichnis
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