Rede zum 1. August 2011 in Niederwil-Nesselnbach

Liebe Festgemeinde

Mit grosser Freude habe ich die Einladung, an Ihrer Nationalfeier die Festrede halten zu dürfen, angenommen. Allerdings gestehe ich, dass ich von Ihrer Gemeinde vor allem den Reusspark kenne, vermutlich geht dies aber vielen Auswärtigen so. Umso schöner daher die Gelegenheit, heute Sie alle persönlich zu treffen. An einer 1. Augustfeier oder an einem Dorffest spürt man den Puls einer Gemeinde immer sehr gut, man merkt, ob die Dorfgemeinschaft funktioniert, wie aktiv die Vereine sind und man lernt die schönsten Festplätze kennen. In diesen Punkten hat Niederwil bis jetzt Höchstnoten!

Wenn ich als Gastrednerin eingeladen werde, taucht immer die grosse Frage auf: Was soll ich bloss sagen? In vielen Bereichen sind meine Gemeinde Islisberg und Niederwil-Nesselnbach sicher ähnlich und kämpfen mit den gleichen Problemen. Aber es gibt auch grosse Unterschiede bezüglich Einzugsgebiet, Grösse etc. Dazu kommt, dass ich an unserem Nationalfeiertag eigentlich nicht zu Tagesgeschäften reden möchte. Vielmehr sollte heute auch ein Anlass sein, um grundsätzliche Fragen anzusprechen. Aber andererseits möchte ich ja nicht jedes Jahr das selbe erzählen, sonst könnten Sie meine Rede jeweils auf dem Internet nach- oder eben, vorlesen.
Glücklicherweise sind Ferien, und dieses Jahr haben meine Familie und ich eine Reise nach Südfrankreich unternommen. Und bekanntlich heisst es, dass Reisen bildet und den Horizont erweitert. Und im konkreten Fall auch hilft, eine 1.August-Rede zu verfassen.

Ich will jetzt aber nicht von der viel grösseren Freiheit und auffälligen Entspanntheit der südfranzösischen Gesellschaft sprechen. Dies hängt einerseits mit dem Klima und andererseits mit der grossartigen Weite und dem vielen Platz zusammen. Beides können wir hier in der Schweiz nicht bieten und auch nicht ändern. Im zunehmenden Dichtestress müssen viele Dinge enger geregelt sein, um ein einigermassen harmonisches Zusammenleben zu gewährleisten, wenn ich persönlich auch überzeugt bin, dass wir vieles überreglementieren und uns zu einer Verbotsgesellschaft mit übersteigertem Sicherheitsdenken entwickeln, wodurch wir selber unsere eigene Freiheit viel zu stark einschränken.

Nein, ganz zufälligerweise, - wie einem das ab und zu passieren kann rund ums Mittelmeer -, haben wir deutsche Feriengäste angetroffen und einmal bis weit nach Mitternacht interessante Diskussionen mit ihnen geführt. Gerade die politischen Unterschiede zwischen der Schweiz und Deutschland oder überhaupt einem anderen demokratischen Land tragen viel zur Befindlichkeit und zur Zufriedenheit eines Volkes bei. Seit dem umstrittenen Projekt „Stuttgart 21“ und vor allem durch die Debatte um den Atomausstieg hat sich in den deutschen Medien der Begriff des „Wutbürgers“ etabliert. Gemeint sind die Demonstranten, die gegen ein Vorhaben oder eine Reform auf die Strasse gehen. Das augenfällige dabei ist, dass es sich nicht etwa um Studenten oder radikale Organisationen handelt, sondern um ganz normale Bürgerinnen und Bürger, die bis jetzt immer brav ihre Steuern bezahlt haben, alle vier Jahre gewählt haben und sich ansonsten kaum politisch engagiert haben. Offensichtlich aber haben diverse Entscheide der Regierung vom Bund und von den Bundesländern Widerspruch geweckt, ohne dass die Menschen aber eine Möglichkeit haben, sich gegen solche Beschlüsse zur Wehr zu setzen. Aus dieser Ohnmacht erwächst Frust, und ewige Frustrationen machen wütend. Den deutschen Bürgerinnen und Bürgern bleibt nur, in vier Jahren die Oppositionsparteien zu wählen und zu hoffen, dass diese ihre Versprechen wahr machen. Viel eher wird aber ein Abwarten und Taktieren der Fall sein, schliesslich will die selbe Partei in vier Jahren wieder gewählt werden und kann es sich nicht leisten, eine Wählerschicht zu verärgern. Oder sie macht alles ganz anders, doch vier Jahre reichen bei weitem nicht, um Grundsätzliches in der Politik zu verändern. Für langfristige Strategien und Kontinuität bleibt in diesem System kein Platz.

Was folgt daraus für unsere Schweizer Demokratie? Ganz klar, dass wir alle sehr privilegiert sind. Wir müssen uns nicht nur auf die Versprechungen der Parteien verlassen, sondern können zu wichtigen Sachgeschäften direkt Stellung nehmen und darüber abstimmen. Wir dürfen sogar selber Vorschläge einbringen mit Anträgen an der Gemeindeversammlung oder auf Kantons- und Bundesebene mit Initiativen. Wir können uns auch gegen missliebige Beschlüsse der Parlamente mittels Referenden wehren.
Für mich als Grossrätin und somit Mitglied eines Parlamentes heisst dies aber auch, dass es sinnvoll ist, nicht jedes Geschäft vors Volk zu bringen. Es gibt sehr grosse und zusammenhängende Gesetzesvorlagen, wo es zielführender ist, dies detailiert in den Kommissionsberatungen auszuarbeiten und dann im Grossen Rat zu beschliessen. Es ist schlichtweg unmöglich, über jeden Paragraphen eines Gesetzes eine Volksabstimmung zu lancieren. Die Ausarbeitung eines Vorschlages muss so oder so beim Parlament bleiben. Da ein Parlament ja die politische Zusammensetzung des Stimmvolkes spiegelt, und durch unser neues Grossratswahlgesetz, das leider durch die Einführung eines Quorums wieder verwässert werden soll, noch viel besser abbildet, ist die Delegation der meisten Geschäfte an ein Parlament ebenfalls demokratisch legitimiert. Bei umstrittenen und weitreichenden Vorlagen kann oder soll sogar das Referendum ergriffen und die Sache so trotzdem dem Volk vorgelegt werden. Und jede Verfassungsänderung unterliegt obligatorisch einer Referendumsabstimmung.
Im Bewusstsein darum, dass wir Schweizerinnen und Schweizer durch unser politisches System privilegiert sind, müssen wir aber auch Sorge dazu tragen und es nicht überstrapazieren. Damit meine ich nicht einmal die gerade in einem Wahljahr unzähligen Volksinitiativen, die von links über die Mitte bis rechts lanciert werden. Dies ist ein gutes Recht und soll nicht eingeschränkt werden. Allerdings halte ich es bei vielem für unverhältnismässig, diese Anliegen in der Verfassung zu verankern, wie es im Initiativrecht nun einmal vorgesehen ist. In der Verfassung müssen die wesentlichen Eckpfeiler stehen und nicht Aussagen, die eigentlich in ein Gesetz gehören. Nun, die Gesetzesinitiative ist in diesem Jahr ja offiziell zu Grabe getragen worden, da nicht benutzt. Die wesentliche Frage aber ist, ob mittels Initiative jedes mögliche Anliegen eingeführt werden soll, auch wenn es unseren ebenfalls demokratisch zu Stande gekommenen Grundrechten widerspricht. Ich bin der Meinung, dass auch eine Volksinitiative an einem allseits akzeptierten Rahmen von menschlichen Grundrechten nicht rütteln darf. Zur Verdeutlichung: ein Minarett zu bauen ist sicher kein Grundrecht,  aber eine Einführung der Todesstrafe ist für mich nicht zulässig. Die Errungenschaften, die unsere Grossväter, (die Grossmütter durften damals ja noch nicht abstimmen…) erkämpft haben, sollen nicht aus einer allgemeinen Empörung heraus dem Zeitgeist und der Parteienprofilierung geopfert werden.

Um wieder zu den Wutbürgern zurückzukommen: auch in der Schweiz ist eine politische Frustration und ein Ohnmachtsgefühl auszumachen. „Die machen ja sowieso, was sie wollen!“ Diese Aussage ist immer öfter zu hören. Nur liegt dies weniger an unserer direkten Demokratie sondern eher an der Ausgestaltung der Gewaltentrennung. Das ist eigentlich ein wichtiger Pfeiler unseres Systems, wird aber langsam ad absurdum geführt. Einerseits die Gewaltentrennung von Legislative und Exekutive: diese funktioniert grundsätzlich gut, wenn es manchmal auch bedauerlich ist, dass diejenigen, die Gesetze erlassen, diese nicht auch ausführen müssen. Ich würde mir wünschen, dass die Bundesparlamentarier ihre Beschlüsse auf Gemeindeebene umsetzen müssten. Da würden viele Entscheide plötzlich ganz anders lauten…
Das Kernproblem, das ich als Grossrätin wahrnehme, ist aber ein anderes: Zu den vom Parlament beschlossenen Gesetzen erlässt die Regierung, also die Exekutive, Ausführungsbestimmungen, so genannte Verordnungen. Und diese widersprechen manchmal krass dem Willen des Gesetzgebers. Wo das Parlament eine möglichst liberale Lösung mit einem grossen Spielraum ausgearbeitet hat, wird diese Handlungsfreiheit mittels kleinlichen Bestimmungen in der entsprechenden Verordnung wieder massiv eingeschränkt. Da kann auch einem Parlamentsmitglied ein gewisses Ohnmachtsgefühl entstehen…
Der zweite Konflikt liegt zwischen der Legislative und der Judikative, der ganzen Rechtssprechung. Auch hier ist festzustellen, dass der Wille des Gesetzgebers in den Mühlen der Justiz geradezu pulverisiert wird. Dies führte in letzter Zeit zu Gerichtsurteilen für Gewaltverbrechen, die im Volksempfinden viel zu mild ausgefallen sind und eine Verhöhnung der Opfer bilden. Gerade auch letztinstanzliche Urteile des Bundesgerichts lösen Reaktionen vom ungläubigen Kopfschütteln bis zur lautstarken Empörung aus.
Unter diesen Umständen ist es für mich teilweise verständlich, wenn immer drakonischere Strafen gefordert und immer härtere Gesetze in Umlauf kommen. Man versucht so, den juristischen Spielraum stärker einzuschränken und dem Volkswillen Nachachtung zu verschaffen.
Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir alle daran aber eine Mitschuld tragen. Gerade auch im privaten Bereich nimmt die Prozessierwut immer stärker zu und bauen wir auf jeden möglichen juristischen Winkelzug. Juristische Klagen werden langsam zum Volkssport, und bei jedem Unfall oder Schicksalsschlag muss ein Sündenbock her, dem wir die Schuld zuschieben können. Oder wenn wir selber Schuld auf uns geladen haben, dann haben wir seitenweise Ausreden und Entschuldigungen und psychologische Gutachten, weshalb wir gar nichts für unsere Tat können. Es geht in diesen verbissenen Kämpfen nur noch darum, recht zu behalten. Ob man damit aber auch dem Recht gerecht wird, interessiert niemanden. Da müssen wir uns ja eigentlich nicht wundern, wenn sich diese Justizmaschinerie, die wir so gut ölen mit unserer Klagewut, langsam verselbständigt und mit den selben Ausflüchten, die wir für uns selber in Anspruch nehmen, auch Gewalttäter gemessen werden.
Um den Kreis wieder zu schliessen: trotzdem bin ich überzeugt, dass unsere direkte Demokratie ein Privileg ist und dass sie funktioniert. Allfällige Misstöne erklingen verglichen mit anderen Ländern auf hohem Niveau. Letzte Woche war ich auf Verwandtenbesuch in Deutschland, und auch da haben wir unweigerlich über Politik gesprochen. Was ich da zu hören bekam über Machenschaften und Absprachen zum persönlichen Vorteil in den Gemeinden, ohne dass sich die Bürger wehren können, hat mich ziemlich entsetzt. Das wäre so bei uns undenkbar, weil gerade auch auf Gemeindeebene wir alle uns einbringen und wehren können und jeder Schweizer und jede Schweizerin Zugang zum politischen Prozess besitzt. Politiker, die nur aus Eigennutz und Machtgelüsten an ihrem Amt kleben, werden früher oder später abgestraft, und das ist auch richtig so. Wir alle können stolz sein auf unser Land, auf unsere demokratische Tradition und auf unser Gemeinwesen, das trotz Rekrutierungs-Schwierigkeiten immer noch im Milizwesen funktioniert. Aber es ist auch notwendig, dass wir alle unseren Teil dazu beitragen, dass wir sorgfältig so genannte Reformen und Veränderungen unseres Systems abwägen, dass wir aktiv teilnehmen und uns genau überlegen, was wir dem Staat delegieren und was wir selber bewältigen können und wo wir Probleme zwischenmenschlich lösen und nicht über den Rechtsweg. Jedes System, auch ein so ausgeglichenes wie in der Schweiz, muss massvoll benützt und darf nicht überstrapaziert werden, damit es sich nicht verselbständigt. Dafür wünsche ich uns allen viel Engagement, Mut, Verantwortungsbewusstsein und den Willen, unsere Errungenschaften auch in Zukunft zu erhalten, zum Wohl unserer Gemeinden, unseres Kantons und unseres Landes. In diesem Bewusstsein dürfen wir jetzt auch mit Stolz und Demut unsere Landeshymne anstimmen und den Geburtstag der Schweiz in einem würdigen und schönen Fest feiern.

Alexandra Abbt