Die Ratschläge des Niklaus von Flüe -

heute noch aktuell?

1. August-Rede 2017 in Rudolfstetten

Liebe Ruedistetterinnen und Ruedistetter, liebe Friedlisbergerinnen und Friedlisberger, liebe Gäste

Es freut mich sehr und es ist mir eine grosse Ehre, dass ich heute Abend hier vor Ihnen ein paar Gedanken zu unserem Nationalfeiertag äussern darf. Natürlich ist es nicht immer einfach, etwas Neues zu sagen, in der Regel geht es am 1. August ja immer um die Besinnung auf unsere direktdemokratischen Traditionen und auf unsere Selbstbestimmung, auf die wir zu Recht stolz sein dürfen.
Dieses Jahr ist es aber etwas einfacher, ein spezielles Thema für eine Ansprache zu finden, denn im 2017 feiern wir auch den 600. Geburtstag unseres Landespatrons, des heiligen Niklaus von Flüe. Dieses Jubiläum hat bis jetzt schon zahlreiche Publikationen und Veranstaltungen hervorgebracht. Dabei zeigt sich auch, wie stark dieser letztlich rätselhafte Mensch von verschiedenen Gruppierungen vereinnahmt worden ist.
Schon zu Lebzeiten galt der Eremit als „Heiliger Mann“, der sich für den Frieden einsetzte. Aus verschiedenen Quellen wissen wir, dass sich Leute vor politischen Entscheidungen und in schwierigen Verhandlungen bei ihm Rat holten. Wer auch immer etwas in der Innerschweiz politisch erreichen wollte, kam offenbar an Bruder Klaus nicht vorbei.
Nach seinem Tod am 21. März 1487 strebten die Obwaldner Behörden eine rasche Heiligsprechung an. Dass diese dann erst Jahrhunderte später, im Jahr 1947 stattfand, hatte verschiedene macht- und kirchenpolitische Ursachen. Trotzdem wurde der Einsiedler immer ungebrochen von der Bevölkerung verehrt, es fanden Wallfahrten zu seinem Grab statt. Deshalb diente er auch immer wieder als Rechtfertigungsgrund für unterschiedliche Anliegen und musste für viele Zitate herhalten, die gar nicht sicher auf ihn zurückzuführen sind.
Vor allem die Politik bediente und bedient sich immer gerne des Bruder Klaus. Er spielte ja im sogenannte „Stanser Verkommnis“ 1481 eine massgebliche Rolle, dass die Streitigkeiten zwischen den städtischen und ländlichen Orten der Eidgenossenschaft nicht eskalierten. Viele von Ihnen kennen wahrscheinlich den vielzitierten Ausspruch: „Machte den Zaun nicht zu weit.“ Dieses angebliche Zitat taucht aber erst in den Schriften von Hans Salat im Jahr 1537 auf. Angeblich soll er es an der Tagsatzung im Dezember 1481 gesagt haben. Aber auch hier handelt es sich um eine Legende. Wie wir vom Chronikschreiber Diepold Schilling wissen, der an der Tagsatzung, an der das „Stanser Verkommnis“ zustande kam, anwesend war, ging Pfarrer Amgrund zu Bruder Klaus ins Ranft, um seinen Rat einzuholen.
Bruder Klaus konnte nicht lesen und nicht schreiben. Die einzigen authentischen Briefe von ihm, die uns überliefert sind, hat er wohl einem Schreiber diktiert. Es ist daraus nicht ersichtlich, dass der Eremit konkrete politische Vorschläge zur Einigung machte. Was wir aber aus den Quellen bestimmen können, sind seine Mahnungen: „Friede ist allweil bei Gott“, „Krieg lässt Gott erzürnen“ und „Seid einander gehorsam.“
Die ersten beiden Aussprüche sprechen für sich und sind von einem Eremiten und Gottsucher sicher zu erwarten. Was hat es aber mit dem Gehorsam auf sich? Dieses Wort hat für uns heute eine eher negative Bedeutung, so als müssten wir etwas ausführen wider besseres Wissen. Man stelle sich vor, Bruder Klaus stünde im Nationalratssaal und fordere zum gegenseitigen Gehorsam auf. Es ist anzunehmen, dass er ausgelacht würde, als „Gutmensch“ und Naivling tituliert, der keine Ahnung von Politik hat. Mit Gehorsam lässt sich schliesslich auch schlecht Wahlkampf betreiben, vor allem, wenn man dem politischen Gegner „gehorsam“ sein soll. Wo bleibt da das eigene, unverwechselbare Profil?
Nun waren die politischen Behörden im 15. Jahrhundert wohl kaum zimperlich und sicher keine „Gutmenschen“. Sie betrieben Krieg als Handwerk, das den Innerschweizer Orten ein schönes Einkommen generierte. Trotzdem anerkannten sie die Autorität des Obwaldner Eremiten und legten offenbar grossen Wert auf seinen Rat. So sehr, dass die Innerschweizer ihren Bruder Klaus noch verehrten, obwohl sie im Stanser Verkommnis eher auf der Verliererseite standen. Diese Ausstrahlung und diese zwingende Autorität des Bruder Klaus wird für uns Nachgeborene immer ein Rätsel bleiben, aber dennoch scheint es mir angebracht, seine Ratschläge auch auf die Bedeutung für die heutige Schweiz und ihre Politik zu untersuchen.
Was heisst den Gehorsam überhaupt? „Gehorchen“ kommt von „Hören“, als das genaue Zuhören ist gefordert. So ist auch theologisch der Gehorsam gegenüber Gott nicht als eine Ausführung von Taten durch Befehlsempfänger gesehen, sondern vielmehr als ein Hören auf Gottes Wort, ein Sich-Öffnen für die Liebe Gottes und als Folge davon entsprechend zu handeln.
Dies wollte auch Bruder Klaus seinen Miteidgenossen auf den Weg geben. Er, der vor seinem Einsiedlerleben selber Söldnerführer und Ratsherr war, verteilte keine strategischen Anweisungen oder Kompromissvorschläge. Ihm ging es darum, dass sich die Verhandlungspartner genau zuhörten, um zu erfahren, worum es dem Anderen eigentlich geht und was er genau befürchtet. Einander zuhören als Grundvoraussetzung für jede politische, aber auch zwischenmenschliche Konfliktlösung – eigentlich eine Selbstverständlichkeit!
In der heutigen politischen Praxis sieht das aber ganz anders aus. Jeder und jede eröffnet den anderen die eigenen Positionen, und dabei bleibt es. Jedes Eingeständnis gegenüber der anderen Ansicht könnte von den Wählerinnen und Wählern als fauler Kompromiss und als „Wischi-waschi-Politik“ gewertet werden. Man tauscht die jeweiligen Argumente aus, ohne dem Anderen richtig zuzuhören. Das ist es, was eine „Arena“-Diskussion im Fernsehen so unerträglich macht, und das ist es auch, was zu einer immer stärkeren Polarisierung im politischen Alltag führt. Es gibt die eine oder die andere Seite, im Notfall kann der Stimmbürger entscheiden! Es stellt sich nur die Frage, ob dies auf Dauer zielführend ist. Beschädigt das nicht schlussendlich die direkte Demokratie, so wie sie ursprünglich gemeint war? Da ging es nicht um Plan A oder Plan B und die Mehrheit bestimmt, sondern es ging um Verhandlungen, um ein Sich-Annähern und dann um eine Mehrheitsentscheidung, die aber auch die unterlegene Minderheit mittragen konnte, weil wichtige Anliegen integriert worden sind. Das Ergreifen eines Referendums war damals noch nicht vorgesehen...
Bruder Klaus‘ Ratschläge gehen aber noch darüber hinaus, wie beispielsweise in einem Brief an die Stadtbehörden von Konstanz deutlich wird. Darin sieht er ein Schiedsgericht, eine Institution, wie sie in der damaligen Eidgenossenschaft gang und gäbe war, als die „böseste“, also schlechteste Variante an. In einem Gerichtsverfahren gibt es immer einen Gewinner und einen Verlierer, dies ist keine Voraussetzung für Frieden. Seine Herangehensweise ist eine, die für uns heute auch sehr, sehr fremd klingt, nämlich der Rechtsverzicht. Um des lieben Friedens willen soll man auch auf ein Recht verzichten und es nicht unbarmherzig durchsetzen. Heute, wo auch die kleinsten Streitigkeiten vor dem Richter landen und sogar bei Schulnoten mit dem Anwalt gedroht wird, ist eine solche Haltung unvorstellbar.
Aber überlegen wir uns doch einmal die Folgen: wie würde unsere Gesellschaft aussehen, wenn das Prinzip des Rechtsverzichts häufiger angewendet würde? Kann dann nicht im Gegenzug auch der Kontrahent sich grosszügig zeigen? Könnte das nicht die Basis für einen anderen Umgang miteinander bilden?
Da steht auch ein Ausspruch wie „Machet den Zaun nicht zu weit“, sei er nun authentisch oder nicht, plötzlich ganz anders da. Das mittelalterliche Zaunrecht bildete die Grundlage für ein friedliches Nebeneinander der Nachbarn. Es ging darin um die korrekte Grenzziehung, und „den Zaun zu weit machen“ hat somit nichts mit einer aussenpolitischen Öffnung zu tun, wie es immer gern interpretiert wird, sondern damit, die gerechtfertigten Ansprüche des Nachbarn anzuerkennen. Bruder Klaus könnte damit durchaus das Söldnerwesen kritisiert haben, aber auch die Gebietsansprüche der Urner gegenüber dem Herzogtum Mailand. Im Wesentlichen sollten die Ratschläge des Bruder Klaus wohl den Parteien die Augen öffnen für die Bedürfnisse des je anderen und den Eigennutz zurückbinden zugunsten einer nachhaltigen Friedensordnung.
Man mag den Obwaldner Heiligen heute belächeln, oder als weltfremden Gottsucher abtun, der in einer ganz anderen Zeit lebte, als Religion und Politik noch Hand in Hand gingen.
Ich bin aber der Meinung, dass seine Weisungen auch für uns Eidgenossinnen und Eidgenossen in der heutigen Weltordnung und in einer säkularen Gesellschaft noch von Bedeutung sind. Politik soll auch heute das friedliche Zusammenleben der Menschen gewährleisten und nicht spalten und Gräben aufreissen. Sie soll auch heute anstehende Herausforderungen gemeinschaftlich lösen und die direkte Demokratie nicht zu einem Werkzeug machen, dass Gewinner und Verlierer hervorbringt. Verlierer sind Frustrierte, die letztendlich das demokratische System in Frage stellen und bekämpfen – aktuelle Beispiele gibt es genug.
An unserem Nationalfeiertag findet traditionell eine Rückbesinnung statt auf die Werte, die die Schweiz so erfolgreich gemacht haben. Gerade deshalb sollen die Worte des Bruder Klaus neu bedacht werden, eines Mannes, der vor 550 Jahren nach einer schweren persönlichen Krise ein erfolgreiches Bauern- und Politikerleben hinter sich liess, um in der Abgeschiedenheit einer Schlucht Gott zu suchen. Seine Worte hatten damals schon schwere innen- und aussenpolitische Krisen abgewendet – vielleicht können sie uns auch heute noch Richtschnur sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Alexandra Abbt, 2017